Wirtschaftskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa: Geschichte und aktuelle Tendenzen

Wirtschaftskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa: Geschichte und aktuelle Tendenzen

Organisatoren
Forum Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE)
Ort
St. Gallen
Land
Switzerland
Vom - Bis
09.10.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Maria Tagangaeva, Kulturwissenschaftliche Abteilung, Universität St.Gallen

Am 9. Oktober 2010 fand an der Universität St. Gallen das 14. Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE) statt. Mit dem Titel „Wirtschaftskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa: Geschichte und aktuelle Tendenzen“ hatte die Konferenz zum Ziel, historische Entwicklungen der Wirtschaftskulturen in der Region, ihre bis heute reichenden Auswirkungen sowie aktuelle Tendenzen aufzugreifen. Im Rahmen des Treffens sind diverse Aspekte der Wirtschaftskulturforschung von Forschenden aus den Bereichen der Wirtschafts- und Kulturwissenschaften, Ethnologie, Sozial- und Geschichtswissenschaften in chronologischer und aktueller Perspektive behandelt worden.

Während der gemeinsamen Einstiegsdiskussion eingeleitet durch die Artikel von Heiko Pleines über Wirtschaftskulturforschung in Deutschland1 und Alena Ledeneva über informelle Praktiken in Russland2 wurden zuerst die Meinungen zum diffusen Begriff der Wirtschaftskultur sowie über interdisziplinäre Forschungsmethoden ausgetauscht. Weiterhin wurden Beispiele von informellen Netzwerken in den vertretenen Ländern diskutiert. Die Schlüsselfrage bei der ersten Lektüre, die Anna Arefina und Maria Tagangaeva moderierten, war die nach der Operationalisierung und Operationalisierbarkeit der Wirtschaftskultur. Diese Frage zeigte auch oft gegenübergestellte Herangehensweisen der verwandten Geisteswissenschaften auf. Als wichtiger Diskussionspunkt bei der Besprechung des zweiten Textes über informelle Praktiken, moderiert von Elena Denisova-Schmidt, erwies sich die Frage nach der Legalisierung der informellen Praktiken. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass die Korruption in Osteuropa weniger die Korruption im westlichen Sinne des Wortes ist. Eher handele es sich um eine Serie von informellen Praktiken, die so tief in den Institutionen verankert sind, dass letztere ohne sie nicht mehr funktionieren. Als eine Ursache für Bildung von informellen Netzwerken wurde der politische Regimewechsel genannt. Danach stellten die Teilnehmenden eigene Forschungsprojekte zu diesem Themenkomplex vor, um mithilfe konkreter Fallbeispiele ein vielfältiges und differenziertes Bild zu erarbeiten.

IVANKA PETROVA (Sofia) machte in ihrem Vortrag auf zwei charakteristische Merkmale der Arbeitswelt in bulgarischen Privatbetrieben aufmerksam: die Mobilisierung der persönlichen Netzwerke, die dazu gehörigen informellen Kontakte für die Ausdehnung ökonomischer Aktivitäten und die Erweiterung der informellen Netzwerke im betrieblichen Umfeld. Personalisierte Netzwerke, die soziales und symbolisches Kapital der Mitarbeitenden bilden, haben dazu gedient, die Knappheit des ökonomischen Kapitals sowie Defizite des formalen Rahmens zu kompensieren. Dabei wies Ivanka Petrova auch darauf hin, dass informelle Praktiken in Provinz- und Großstädten unterschiedlich eingesetzt werden. Auch politischen Ereignisse, wie der EU-Beitritt Bulgariens, gelten als eine einflussstarke Größe in der Veränderung der Beziehungen im Arbeitsumfeld.

SIMON GODARD (Genf) wählte für seine Präsentation eine neue Betrachtungsperspektive des osteuropäischen Raumes, den man nicht als gegeben, sondern als Konzept betrachten sollte. Dementsprechend müsse das „real existierende Osteuropa“ als Ergebnis eines 40-jährigen Prozesses und dynamisches Konstrukt hinterfragt werden. Simon Godard vermittelte Einblicke ins Funktionieren des RGW-Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, der als Beispiel einer neuen gemeinsamen und transnationalen Wirtschaftskultur betrachtet werden kann.

Ergebnisse einer internationalen Studie über kulturelle Begegnungen im Geschäftsleben der ausländischen Niederlassungen in Bulgarien mit bulgarischen Mitarbeitenden waren das Thema des Vortrags von TANYA CHAVDAROVA (Sofia). Die theoretische Grundlage für ihre Untersuchung bildeten die Theorien von G. Hofstede, F. Trompenaars, C. Hampden-Turner und R. Münch. Als führende Dimensionen der bulgarischen ökonomischen Kultur erwiesen sich laut der Studie Diffusion, Affektivität, Feminität, Partikularismus, hohe Machtdistanz und negativer Individualismus. Die Annahme, westliche Manager verhielten sich in Bulgarien wie Pioniere, die das Land auch außerhalb des Geschäfts „westernisieren“ möchten, wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass im Zentrum der Tätigkeit der ausländischen Niederlassungen in Bulgarien der materielle Gewinn stehe. Als einer der Kritikpunkte wurde die Darstellung der „Westler“ als eine homogene Gruppe in der vorgestellten Studie genannt.

ANNA AREFINA (St. Gallen) stellte ihr Forschungsprojekt über Organisational Change im national-kulturellen Kontext vor. Sie analysierte den Einfluss der nationalen Kultur auf Organisational Change am Beispiel von Change Strategien in schweizerischen und deutschen Unternehmen und deren Wahrnehmung und Umsetzbarkeit in russischen Niederlassungen. Der kulturelle Einfluss auf Organisational Change wurde anhand der Werthaltung der Repräsentanten aus verschiedenen Kulturen (aufgrund von Dimensionen nationaler Kulturunterschiede) sowie Erkenntnissen aus internationalem und transkulturellem Management betrachtet.

Einen historischen Einblick in die Bildung der Netzwerke zwischen südsächsischen und nordböhmischen Arbeitern Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts vermittelte JAN KIEPE (Erfurt). Die transnationale Arbeitsmigration, die charakteristisch für die globale Welt ist, sei laut dem Historiker Marcel van der Linden kein neues Phänomen. Die von Jan Kiepe aufgestellte These ist, dass Wanderarbeiter oft von Historikern übersehenen Akteure seien, die bereits damals transnationale Netzwerke schufen und die heutige Entwicklung der globalen Welt einleiteten und mitgestalteten. Denn neben Geld- und Warenwerten, deren Fluss sich kaum nachvollziehen lässt, seien es Menschen gewesen, die Staatsgrenzen zum Zwecke der Lohnarbeit überschritten. Sie fügten sich in dortige Gesellschaften ein und prägten diese wiederum durch ihr Tun. Zudem blieben ihre Verbindungen in die „Heimat“ bestehen, sodass grenzübergreifende Kontaktzonen entstanden. Aus der Wanderarbeit ging die Grenzarbeit – die grenzübergreifende politische Aktivität – hervor. Sprache und Kanäle der beschriebenen Vernetzung waren die Diskussionsthemen des Referats.

TAMÁS KANYO (Budapest) berichtete über das Verständnis der “politischen Kultur“ im ehemaligen Ostblock anhand von Beispielen in Ungarn. Er betrachtete das Verhältnis des ungarischen Volks zur Demokratie und ihren Stand in der staatlichen Politik. Dabei diskutierte er die Problematik der künstlichen und echten Demokratie. Der Ansicht des Referenten nach bleibt Ungarn immer noch ein langer Weg zur Kultur des Demokratiestaates. An der Oberfläche sehe alles gut aus: Ungarn habe schöne Gesetze, die perfekte Verfassung, die EU-Mitgliedschaft. In der Realität aber würden die Gesetze nicht befolgt. Als eines der Kritikpunkte wurde von ihm der Druck der Vergangenheit genannt. Zum Beispiel seien Gewerkschaften genauso wie vor 1989 aufgebaut und Hochschulen würden nach den alten Mustern betrieben. Zusammenfassend wurde vom Referenten festgestellt, dass es keine Schritte zur Demokratisierung des Landes geben werde, solange die „geistige Leibeigenschaft“ in Ungarn bestehen bleibe.

MARIA TAGANGAEVA (St.Gallen) setzt sich im Rahmen ihres Dissertationsprojekts mit der gegenwärtigen burjatischen Kunst in der russischen Kunstszene auseinander und gab in ihrem Referat eine Einführung in die Geschichte und aktuelle Tendenzen des russischen Kunstmarkts. Dabei stützte sie sich auf aktuelle Tendenzen des internationalen Kunstmarkts: Kommerzialisierung, Mobilität, Biennalisierung und Intellektualisierung der Kunst. Neben dem Hinweis, dass der russische Kunstmarkt eine relativ junge Erscheinung ist, ging sie auf den öffentlichen Kunstbetrieb in der Sowjetunion sowie im aktuellen Russland ein. Als Fazit hielt Maria Tagangaeva fest, dass der russische Kunstmarkt zwar globale Tendenzen aufweist, jedoch eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Kunst in Moskau und im Rest Russlands zu beobachten ist. Die Betrachtung der Kunst als Statussymbol und Kapitalanlage erwies sich in der Diskussion nicht als der einzige Grund der aktuellen Situation auf dem russischen Kunstmarkt. Es wurde auch auf den Einfluss der großen politischen Figuren wie Premierminister Vladimir Putin aufmerksam gemacht.

Das vierzehnte Arbeitstreffen erwies sich als sehr anregend was methodische Ansätze und Vielfalt der empirischen Studien in der Wirtschaftskulturforschung anbelangt. Im Laufe dieses stark interdisziplinär ausgerichteten Treffens zeigte es sich aber als problematisch, sich an spezifischen, für die einzelnen Disziplinen charakteristischen Begriffen und Theorien festzumachen. Darum müsste die Aufgabe vielmehr sein, stärker fokussiert auf einzelne Fragestellungen innerhalb der Wirtschaftskulturforschung einzugehen, die zum Rahmenthema des separaten Treffens werden könnten. Das Thema, Ort und Datum des fünfzehnten Arbeitstreffens des FOSE werden in der nächsten Zeit festgelegt.2

Konferenzübersicht:

Elena Denisova-Schmidt (St.Gallen): Begrüßung, Einführung in das Thema

Anna Arefina, Maria Tagangaeva, Elena Denisova-Schmidt (St.Gallen): Textdiskussion

Ivanka Petrova (Sofia): Kontinuitäten und Wandel im Umgang mit formalen und informalen Beziehungen in der Arbeitswelt. Das Beispiel von Privatbetrieben nach 1989

Simon Godard (Genf): Unbekannter Grundstein des Ostblocks? Die Rolle des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe in der Entstehung einer transnationalen Wirtschaftskultur in Osteuropa, 1949-1989

Tanya Chavdarova (Sofia): Doing Business in Bulgaria: Cultural Encounters between East and West

Anna Arefina (St. Gallen): National Cultural Context of Organizational Change. Implementation of German and Swiss Organizational Change Initiatives in Russia

Jan Kiepe (Erfurt): "Wanderarbeit" und "Grenzarbeit". Über Netzwerkbildungen zwischen südsächsischen und nordböhmischen Arbeitern

Tamás Kanyo (Budapest): Zum Verständnis der "politischen Kultur" im ehemaligen Ostblock (anhand von Beispielen in Ungarn)

Maria Tagangaeva (St. Gallen): Zur aktuellen Situation des russischen Kunstmarkts

Anmerkungen:
1 Heiko Pleines, Wirtschaftskulturelle Ansätze in der deutschen Osteuropaforschung, in: Sozialwissenschaftlicher Fachinformationsdienst Osteuropaforschung 2 (2006), S. 9-15.
2 Alena Ledeneva, From Russia with Blat: Can Informal Networks Help Modernize Russia?, in: Social Research 76 (2009), S. 257-288.
[3] Aktuelle Informationen zu Veranstaltungen FOSE finden sich unter: <http://fose-ch.blogspot.com/> (23.11.2010)


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Deutsch
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